ISBN 978-3-86841-303-8
164 Seiten
16 €

 

Martin Veith (Hrsg.)
Fragmente zu Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus in der Bukowina

Anarchist:innen und Anarcho-Syndikalist:innen kämpften in der Bukowina für eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Über ihr Leben und Wirken ist bis heute wenig bekannt. Einblicke bieten die in diesem Buch veröffentlichten Beiträge. So folgen wir dem Lebensweg, des nahe der Stadt Czernowitz aufgewachsenen Anarchosyndikalisten Mechel Stanger (1909-1984). In seiner Autobiographie beschreibt er die Arbeits- und Lebensrealität seiner Jugend und seinen Weg zum Anarchismus. Er führt uns durch die westeuropäische anarcho-syndikalistische Bewegung und wir begegnen russischen und ukrainischen anarcho-syndikalistischen und anarchistischen Revolutionären. 1937 kämpft er in der sozialen Revolution in Spanien. In derselben Gruppe wirkte David Stetner. Sein Weg führte ihn aus der Bukowina schließlich nach Frankreich. Im vorliegenden Buch findet sich eine kurze und informative autobiographische Skizze.
Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der anarcho-syndikalistischen Organisation der 1930er Jahre, die als rumänische Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation angehörte. Sie war ständiger Verfolgung durch den rumänischen Staat ausgesetzt.

Tatsächliche und vermeintliche Revolutionär:innen, Sozialist:innen, Kommunist:innen, Anarchist:innen und Anarcho-Syndikalist:innen wurden, wie im gesamten Land auch in der Bukowina, in Form einer Hexenjagd verfolgt. Regelmäßig kam es zu Hausdurchsuchungen, Massenverhaftungen und großen Gerichtsprozessen. Die Menschen, meist Arbeiter:innen und Schüler:innen, wurden oftmals ohne jegliche Beweise für angebliche Taten angeklagt, misshandelt und gefoltert. Der rumänische Staat bekämpfte die Ideen von Gleichberechtigung und einer freien sozialistischen Gesellschaft mit Organisationsverboten, massiver Zensur, der Unterdrückung der freien Rede und staatlichem Terror durch Polizeigewalt sowie der Verhängung von Belagerungszuständen über Städte und Regionen. Die autoritäre-nationalistische Monarchie erhielt dabei Unterstützung von den aufstrebenden antisemitisch-faschistisch-christlichen Bewegungen. Hand in Hand agierten Faschisten und der rumänische Staatsapparat. Auf die Verfolgung der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu Beginn der 1930er Jahre wird besonders eingegangen, wobei das Gerichtsverfahren gegen eine Gruppe jugendlicher Sozialist:innen und Kommunist:innen ausführlich dargestellt wird, denen der rumänische Staat die Mitgliedschaft in der Gefangenenhilfs- und Solidaritätsorganisation Internationale Rote Hilfe vorwarf. Die vorliegende Ausarbeitung ist daher auch ein Beitrag zur Justiz- und Polizeigeschichte und dem Vormarsch des Faschismus in Rumänien.

„Insgesamt besticht das Buch durch seine hervorragende Recherchearbeit, auf die die Leser:innen in den zahlreichen Quellenangaben zurückgreifen können. Wir möchten das Buch an dieser Stelle unbedingt empfeh­len – nicht nur für Anarchist:innen. Denn es gibt einen umfassenden Einblick in die Zeit der Arbeitskämpfe um 1900 bis 1930 in Rumänien, in der Bukowina und die damit einherschreitende Repression. Ohne solche Bücher wüssten wir nichts oder wenig über die Region. Dieses Wis­sen lässt sich
wunderbar in unser schon vorhandenes über die weltweiten revoluti­onären Kämpfe einfügen." ( Redaktionskollektiv der RHZ in Die Rote Hilfe 1/2023).

Rezension

Helge Döhring: Ein Buch über den historischen Anarchismus in der Bukowina. In: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, vom 30. Dezember 2022 hier...
Flucht eines bokuwinischen Deserteurs mit der Eisenbahn von Bukarest nach Berlin:  „26 Stunden lag ich unter diesem Wagen. (…) Es war am besten, mit dem Gesicht nach unten zu liegen, aber der Zug fuhr schnell und wirbelte Kieselsteine auf. Meine beiden Hosen waren bald so durchgescheuert, dass die bloße Haut zum Vorschein kam. Meine Knie wurden von den vibrierenden Achsen malrätiert. Ich wurde durchgeschüttelt, bis mir schlecht war. Außerdem senkten sich jedes Mal, wenn die Geschwindigkeit geändert wurde, Eisenketten, die mir Schläge versetzten. (…) Ich erinnere mich besonders an den Widerwillen, unter diesen Umständen meine Notdurft zu verrichten. Mehr als einmal dachte ich daran, mich fallen zu lassen, nur damit das Leiden aufhört. (…) Am Morgen des 8. April 1931, nach dem längsten Tag meines Lebens, kroch ich völlig erschöpft unter meinem Wagen hervor. (…) Ich hatte es nach Berlin geschafft!“

Das Gebiet der Bukowina liegt heute sowohl in der Ukraine als auch in Rumänien. Das war nicht immer so. Vielmehr verschob sich das Territorium. Die Bevölkerung bekam somit unterschiedliche Staatsbürgerschaften verabreicht. Solange sie zum Reich Österreich-Ungarn gehörte, lebten alle relativ friedlich miteinander: ukrainische, polnische, rumänische, deutsche und ein hoher Anteil jüdischstämmiger Menschen. Sie entfalteten ein reichhaltiges Kulturleben. Nach dem Ersten Weltkrieg erbeutete Rumänien den südlichen Teil der Bukowina und förderte dort mit Hilfe von Kampfverbänden und der rumänisch-orthodoxen Kirche einen Nationalismus. Das bekamen dort vor allem Juden und die organisierte Arbeiterbewegung zu spüren, die sich in den Jahren nach dem Krieg und der russischen Oktoberrevolution in Sozialdemokraten und Kommunisten aufzuteilen begann. Dazu etablierte sich eine rumänisch geprägte faschistische Bewegung, die dramatisch an Einfluss gewann.
Diesen Schmelztiegel gesellschaftlicher Veränderungen erläutert Martin Veith in seinem 2022 beim Verlag Edition AV erschienenen Buch „Fragmente zu Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus in der Bukowina“ in derart verständlichen Worten, dass sich diese komplexen Zusammenhänge auch ohne Vorkenntnisse erschließen. Veith gilt durch mehrere Studien zur Geschichte der freiheitlich-emanzipatorischen Arbeiterbewegung in Rumänien als Kenner auf diesem Gebiet. Überhaupt war er (international) der erste, der sich aus libertärer Sicht mit der rumänischen Arbeiterbewegung befasste.
Im vorliegenden Buch stützt er sich biographisch vor allem auf den nahe der Hauptstadt Czernowitz aufgewachsenen Anarchisten Mechel Stanger (1909-1984), der hier eingangs seine aufregende Flucht aus Rumänien nach Deutschland schilderte: In Berlin angekommen, erhielt er Unterstützung von dortigen Anarchisten und Syndikalisten. Stanger hatte internationale Kontakte, 1937 kämpfte er in Spanien für die dortige soziale Revolution, genauso wie der ebenfalls in der Bukowina aufgewachsene und im Buch portraitierte Anarchist David Stetner.  
Neben diesen biographischen Schwerpunkten präsentiert Veith auch zwei Organisationen aus der Bukowina der frühen 1930er Jahre: Die „Internationale Rote Hilfe“ (MOPR) und die rumänische Sektion der anarcho-syndikalistischen Organisation „Internationale Arbeiter-Assoziation“ (IAA). Letztere hatte kein langes Leben. Zu stark erwies sich die politische Verfolgung ihrer Mitglieder, die im Buch auch kurz porträtiert werden. Die „Internationale Rote Hilfe“ war zwar keine freiheitlich-sozialistische Organisation, allerdings zeigt ihre Geschichte die Brutalitäten des rumänischen Staates und seiner damaligen Handlanger auf. Das betraf besonders Josef Feldmann und Polia Vascauteanu, deren Prozessverläufe und bestialische Folterungen sehr ausführlich dokumentiert werden.
Veith bedient sich reichhaltiger Quellen, die nicht nur zur Illustration beitragen, sondern von hohem wissenschaftlichen Wert sind, geeignet zum Weiterforschen. Darunter befinden sich akribisch ausgewertete zeitgenössische rumänisch- und deutschsprachige Zeitungen. Im einleitenden Teil präsentiert er zudem eine aktualisierte Kurzbiographie des in der Bukowina geborenen Narodniki und Anarchisten Zamfir C. Arbore, der zeitweise als Sekretär des Anarchisten Michael Bakunin tätig war und großen Einfluss auf die sozialistische Bewegung Rumäniens ausübte.
Mag dieses Buch mit seiner Aufarbeitung der Vergangenheit einen Beitrag leisten zu einem friedlichen Europa ohne Kriege, in welchem das Miteinander verschiedener Kulturen im Vordergrund steht.

 

 

 

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