ISBN 978-3-86841-017-4
161 Seiten
16 €

 

Jean-Bernard Pouy
Mord im Paradies der Nackten



Im Gegenlicht nähert sich eine Silhouette. Ein magerer, hochgewachsener Typ, unbeholfen, weiß wie eine Dolipran-Tablette, bis auf das vom Aufenthalt im Freien gebräunte Gesicht. Die Wangen sind hinter einer Ray-Ban verborgen, er hält eine große Plastiktüte in der Hand. Was ist denn das für ein Zeitgenosse? Auf weniger als zehn Meter herangekommen, nimmt er die Brille ab, ohne irgendwelche Theatralik.
Calo ist sofort klar, dass er diesen Kerl schon mal irgendwo gesehen hat, aber wo.
Darf ich?
Hier darf jeder.
Der Typ lässt sich nicht weit von ihm nieder. Aber auch nicht zu nah.
Erkennen Sie mich?
Ich habe Sie schon gesehen, aber es fällt mir gerade nicht ein.
Der Typ macht mit der flachen Hand an der Schläfe die Geste des salutierenden Gendarmen.
Sergeant le Tellier, Gendarmerie nationale.
Bingo, es ist der junge Polyp, mit dem er sich beim Besuch von Rosas Haus ein wenig angefreundet und mit dem er den Garten geplündert hat. Nackt. Ohne Uniform verlieren die Menschen unweigerlich ihr bisschen Macht. Es bleiben nur noch ein Kopf, zwei Arme, zwei Beine und ein Pillermann.

Rezension:

E.A. Homburg: Die Tote und die Nackten, erschienen in: Gegenwind 258, März 2010

Folgende Kombination: Nackte Menschen vom Typ Provinzapotheker, eine Gruppe Anarchistinnen und Anarchisten, die sich ausziehen müssen, sich aber eigentlich nicht ausziehen wollen, ein nackter Polizist, der die Symbole seiner Autorität (Pistole und Dienstmütze) in einer Plastiktüte mit sich rumträgt, in der Nähe eine Gruppe Sinti und Roma, die überhaupt nichts von der Freikörperkultur halten und mittendrin eine alte Frau, nicht nackt, dafür tot.
Ort: Ein Campingplatz für Nudisten an der französischen Atlantikküste. Pralle Sonne.
Pouy, ein Urgestein im französischen Krimi-Genre Noir, ist bekannt für seine ungewöhnlichen „Helden“, die eher durch Zufall Ermittler werden, als durch berufliche Profession. Ein Roma, der Wittgenstein liebt, ein Taubstummer, einen depressiven Versicherungsangestellten, solche Menschen ermitteln, eher unfreiwillig oder notgedrungen, in Pouys Geschichten. Mit der „Polente“ stehen sie eigentlich auf Kriegsfuß.
Auch im „Mord im Paradies der Nackten“ ermitteln Protagonisten, die so was eher ablehnen. Vier Männer und drei Frauen, alles Delegierte lokaler Anarchogruppen, treffen sich jährlich zur Sommeruniversität, um die Welt zu verbessern, die gemeinsame Politik abzustimmen und den Staat zu negieren. Diesmal, weil der Campingplatzbesitzer ein Sympathisant ist, eben in einem Nudisten-Camp. Pouy gelingt es hier viel unterschiedliche Charaktere mit wenigen Worten mit der Geschichte zu verflechten und die Spannung durchweg zu halten. Die Anarchos werden liebevoll mit ihren kleinen Dogmen auf die Schippe genommen, alle anderen bekommen sowieso ihr Fett weg. Die Realität bietet die witzigste Satire. Jean-Bernard Pouy ist ein gnadenlos guter Geschichtenerzähler. Unter der prallen Sonne der Atlantikküste diskutieren sich die anarchistischen AktivistInnen die Köpfe noch heiser, plötzlich passiert ein Mord. Das Opfer: eine alte Frau, die Putzfrau des Campingplatzes und wie die Mitglieder des Kollektivs bald herausfinden, die Tochter des legendären spanischen Anarchisten Durruti. Für die Gruppe ist klar: Jetzt ist es eine Ehrensache den Mord aufzuklären.
Dieser Krimi ist einfach super. Ein Meisterstück der politischen Unterhaltung, voll mit Absurditäten und Situationskomik. Aufgebrachte Nackte, die einen vermeintlich angezogenen Vergewaltiger verprügeln, Polizisten denen die Nacktheit suspekt, dafür zusammen mit den Anarchisten in trauter Eintracht einen Gemüsegarten plündern und über alles die große Frage: Haben Nackte etwas zu verbergen?

 

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