ISBN
3-936049-05-X
110 Seiten
14 €
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Ulrich Klemm
Anarchisten als Pädagogen
Profile libertäre Pädagogik
Die Frage nach der
Pädagogik gehört zu einem zentralen Bereich libertärer Gesellschaftskritik
und Innovation. Vor diesem Hintergrund will der Band biographie-
und ideengeschichtlich einen Überblick über diese bis heute von der
etablierten Pädagogik und Erziehungswissenschaft weitgehend vergessenen
antiautoritären Traditionen geben.
Mit ihren pädagogischen
Ansichten werden dargestellt:
Leo N. Tolstoi
Michael Bakunin
Fransisco Ferrer
Ernst Friedrich
Walter Borgius
Herbert Read
Paul Goodman
Desweiteren von Ulrich Klemm bei Edition AV:
Freiheit & Anarchie
Mythos Schule
Rezension:
KS: Autonomie statt Erziehung, erschienen in KULT 20/09
Das vorliegende Buch versammelt 'Profile libertärer Pädagogik'
(Untertitel) u.a. von William Godwin, Max Stirner, Leo Tolstoi, Michael
Bakunin und Herbert Read. Die Pädagogik gehört zu den zentralen
Aspekten libertärer Gesellschaftskritik und Innovation. Die antiautoritäre
Tradition wurde von der etablierten Erziehungswissenschaft weitgehend
ausgeblendet. Ein zentrales Problem der Pädagogik jedwelcher Couleur
ist der Widerspruch von Freiheit und Zwang. Ein weiterer Widerspruch
ergibt sich aus Iritentionalisierung und Institutionalisierung von Bildung
und Erziehung: wer gibt mit welcher Berechtigung welche Ziele und Methoden
vor?! Eine libertäre Pädagogik fordert selbstbestimmte Orte
des Lernens ohne Fixierung auf Staat, Kirche, Schule und Familie mit
der Praxis ganzheitlicher Interaktionen. Seit den 60er Jahren geht es
der anarchistischen Schulkritik um eine "Neudefinition von Bildung
und Erziehung als gesellschaftlicher Wert." Fundamental hierfür
ist der "anthropologische Optimismus bezüglich der Autonomie
und Selbstverantwortung des Menschen." Vorläufig sollte allerdings
eine Unterscheidung erlaubt sein: soviel Bildung wie möglich - so
wenig Erziehung wie nötig.
William Godwin (1756 -1836) - Zeitgenosse Goethes! - verweist darauf,
daß es einerseits nicht ganz gelungen sei, die Bildung aus
dem Einfluß der Kirche zu befreien, andererseits eben der moderne
Nationalstaat seine volle Machtpraxis in der Schulpolitik einsetzt.
Für Max Stirner (1806 -1856) sollte nicht das Wissen sondern die
Willensfreiheit im Zentrum der Erziehung stehen. Die "freie Persönlichkeit" ist
das Wesentliche und nicht die institutionalisierte Moral- und Wertevermittlung.
In dieser radikalen Zuwendung zum selbstbestimmten Individuum zeigt sich
Stirners Bruch mit der konventionellen Pädagogik. Sein Vorwurf ist,
daß "Bildung nur im Formellen oder im Materiellen ... nicht
in der Wahrheit, in der Erziehung des wahren Menschen" praktiziert
werde - das ergebnis seien "unterwürfige Menschen". Dagegen
müsse "statt des lernenden Menschen ein schaffender erzogen" werden.
Auch Leo N. Tolstoi (1828 -1910) muß als Vordenker einer modernen
Freiheitspädagogik gewürdigt werden. Er sieht Bildung als freien
Prozeß, Erziehung als Zwang. Er möchte Erfahrung und Freiheit
als Prinzipien der Erziehung wirksam werden lassen. Tolstoi selbst leitete
ein Schulprojekt, wo es weder Strafen, Noten, Hausaufgaben noch Sitzenbleiben
gab. Er wollte damals "seine Bauern alphabetisieren".
Die Idee einer ganzheitlichen Erziehung wurde durch Michael Bakunin (1814
-1876) in seinem Aufsatz 'Die vollständige Ausbildung' formuliert,
wo er fordert: "Kopf, Hand und Bewußtsein" zu erziehen.
Schule soll "die allmählich fortschreitende Initiation zur
Freiheit durch die dreifache Entwicklung der physischen Kräfte,
des Geistes und des Willens" ermöglichen. Bakunins Pädagogik
ist politisch, sie zielt auf Chancengleichheit, Verbindung von Kopf-
und Handarbeit, "damit alle auf gleiche Weise vollständige
Menschen werden können" - wissenschaftlich, polytechnisch und
moralisch
gebildet. Abgesehen von Bakunins Statement, "daß der Mensch
nur durch die Arbeit Mensch wird" - was eine Diskussion unter den
unverschuldet arbeitslos Gewordenen auslösen wird - erinnert diese
Grundeinstellung doch sehr an Goethes 'Wilhelm Meisters Lehrjahre', wo
Wilhelm genau das beklagt, daß der bürger sich nicht "vollkommen" ausbilden
könne, sondern nur "brauchbar" zu sein habe (vgl. Fünftes
Buch, Drittes Kapitel). Der Unterschied des Goethe'schen idealistischen
Ansatzes zum politischen Standort Bakunins wird allerdings in Wilhelms
Einstellung deutlich: indem er die "Verfassung der Gesellschaft" als "Schuld" einstuft,
bescheidet er sich doch aufs Private: "ob sich daran einmal etwas ändern
wird und was sich ändern wird, bekümmert mich wenig ... ich
habe ... an mich selbst zu denken." Man erkennt daran auch die Problematik
einer Aussage wie bei Wilhelm - "mich selbst, ganz wie ich dabin,
auszubilden" - wenn man sie an den Kategorien Stirners oder Bakunins
mißt.
Zu den bekanntesten und einflußreichsten Pädagogen des Anarchismus
zählt der Spanier Francisco Ferrer (1859 -1909), der die sog. "rationale
Schulbewegung" initiierte. Er wollte "jede übernatürliche
oder mystische Idee ausschließen", die "Fähigkeiten
harmonisch vereint" entwickeln und die ethische Erziehung "auf
das große Naturgesetz der Solidarität stützen." Die
Bildung sollte der Kontrolle von Staat und Kirche entzogen und zum "Motor
revolutionärer Veränderungen" werden.
Eine Sonderstellung nimmt Ernst Friedrich (1894 -1967) ein, der den Grundgedanken
der "Friedenserziehung" einbrachte. Sein viersprachiger Photoband
'Krieg dem Krieg' (1924, Neuauflage 1980 bei 2001) über den 1. Weltkrieg
wurde ein Bestseller, sein 'Antikriegsmuseum' in Berlin war von 1925
-1933 der "Treffpunkt einer anarchistischen Jugendbewegung und des
revolutionären Antimilitarismus".
Herbert Read (1893 -1968), der u.a. den Essay 'Poetry and Anarchism'
(1938) und die epochemachende Studie 'Erziehung durch Kunst' (1943) herausbrachte,
entwickelte eine libertäre Theorie ästhetischer Erziehung.
Für ihn ist "Kunst das wichtigste Werkzeug für die Entwicklung
des menschlichen Bewußtseins." Ihm geht es um Vitalität
und Spontaneität, die schöpferischen Energien des Menschen
sollen gefördert werden: "Die Kunst des Kindes ist seine Fahrkarte
zur Freiheit."
Bedenkend, daß Paul Goodman (1911 -1972) das "beiläufige
Lernen" fordert und den üblichen Schulunterricht in Frage stellt,
geht es also generell um die Methode und das Ziel bei Bildung und Erziehung
- ob sie systemstabilisierend wirken sollen oder nicht, mehr im Sinne
des Kollektivs oder des Individuums. Insgesamt ergeben sich als Prinzipien
einer libertären Erziehung die Erfahrungsbezogenheit, Ganzheitlichkeit
und Rationalität. Ziel ist die autonome Persönlichkeit, die
sich durch freien Willen bzw. Kreativität auszeichnet. Libertäre
Pädagogik verwirklicht sich ohne Staat und Kirche, ohne Bürokratie
und Ideologie. Kunst wird zum Kristallisationspunkt einer freien Gesellschaft.
Und so kann und sollte das vorliegende Buch immer wieder als Ausgangspunkt
heutiger Debatten über Methoden, Inhalte und Ziele von Ausbildung,
Bildung und Erziehung herangezogen werden. Wenn sich die Bildungspolitiker
von den Tabubegriffen "Anarchie" oder "Autonomie" einmal
weniger erschrecken ließen, könnten sie hier manch wertvollen
Ansatz zukünftiger menschenwürdiger Bildungschancen erkennen.
Pflichtlektüre für alle, die sich an unseren Kindern vergreifen
wollen".
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